Tagebuch
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DAS MAGAZIN zu Hause bei Nadeschkin
ZU HAUSE BEI
© Das Magazin – 05. Dezember 2020
Seite: 31
Jetzt geht eine ganz besondere Zeit für mich und meinen Sohn zu Ende – wir zügeln aus unserem Zirkuswagen und fahren heim. Noch steht unser Wohnwagen beim Albisgütli, neben uns Pfarrer Siebers Pfuusbus, aber Woche für Woche ist der Parkplatz verlassener, trister, grauer geworden, einer nach dem anderen ist gegangen. Zirkus ohne Zirkuszelt macht einfach keinen Sinn! Sonst siehst du vom Wagenpark aus die Lamas oder Kamele, hörst nachts die Rösser schnauben.
Am 28. Oktober hatten Urs und ich unsere allerletzte Zirkusvorstellung; dass es die letzte war, erfuhren wir alle zwischen zwei Shows, als Géraldine Knie uns über den Bundesratsentscheid vom Nachmittag informierte: Wir Artisten hatten nicht einmal Zeit, uns voneinander zu verabschieden, obwohl das monatelange Proben und Auftreten so zusammenschweisst. Es war nicht von heut auf morgen – es war von heut auf heut: ein Schock. Noch während der Schlussvorstellung wurde unsere Kuh verladen.
Ursprünglich waren 247 Vorstellungen geplant, Premiere 19. März, wir arbeiteten intensivst fünf Monate im Vorfeld. Dann bist du parat, und der Bundesrat sagte erstmals im Frühling, jetzt ist fertig, ausgerechnet am Tag vor der Generalprobe. Danach begann ein Hin und Her – im Mai gehts los, im Juli, im September –, wir haben trotzdem weitergeübt, ichdurfte janicht vom Seil fallen, wenns so weit wäre. Ein wenig wie ein Koch, der das Menü ewig warm halten muss. Schlussendlich stellten wir zwei Schweizer Rekorde auf, im Coronajahr: Urs und ich sind die Künstler, die am meisten Auftritte absagen mussten. Und Rekord Nummer zwei: Wir sind auch die, die letztlich am meisten spielen konnten. 65-mal sind wir im Circus Knie aufgetreten!
Das plötzliche Ende den Kindern zu erklären, war schwierig. Mein Sohn Sid und sein bester Freund Raoul hatten kleine Auftritte. Bei Sid gab’s Tränen, als er seinen Töff, den er in der Manege fahren durfte, zurückgeben musste. Deshalb gestalteten wir den Abschied für alle Zirkuskinder schonend und behielten sie danach noch ein paar Wochen in ihrem Alltag. Alle sieben gingen weiter in die Zirkusschule – absurderweise sogar in Halbklassen, weil man im Zirkusschulwagen den Abstand nicht einhalten kann.
Unsere Nummern funktionierten sehr gut: Die mit der Kuh ging durch die Decke. Auch die Seilnummer gelang. Das Publikum war unglaublich dankbar, manche hatten Tränen in den Augen, so sehr hatten sie im Shutdown Unterhaltung vermisst. Oft gab es in einer Show drei Standing Ovations für uns alle. Urs und ich bauten kaum Bezüge zu Corona ein – das Virus sass eh mit im Publikum. Unser Auftrag ist es ja, es die Leute für ein paar Stunden vergessen zu lassen.
Zirkus heisst Beweglichkeit, in Körper und Kopf; vieles ist unvorhersehbar, du musst flexibel sein und in diesem Jahr sogar mehr denn je. Immer ist was los, das ist lässig. Du lebst nah aufeinander, jedes Ding im Wagen ist nur einen Handgriff entfernt. Sobald es schön ist, bist du draussen, die Kinder spielen in den Gassen der Campingwagenburg.
Das Leben ist klein und übersichtlich – mein Bub will jetzt für immer im Zirkuswagen leben.
Protokoll: Anuschka Roshani
Foto: Judith Cosandey
26.11.2020
Was die Presse übersehen hat
Und plötzlich haben wir viel Zeit.
Wahrscheinlich hatten wir in der Primarschule zum letzen Mal so eine leere Agenda!
Alles, was sich sonst stapelt, können wir nun in Ruhe erledigen. Dinge ablegen, Material sortieren, Unterlagen archivieren. Hier zum Beispiel eine Auswahl an Presseartikeln aus unserer kurzen Zirkustour... ist doch beachtlich viel zusammengekommen.
Umso erstaunlicher ist es, dass in keinem der Artikel auch nur ein Wort darüber steht, was wir eigentlich gemacht haben. Niemand hat über den Inhalt des Programms geschrieben und auf die sonst üblichen Kritiken zu unserer Arbeit haben wir vergeblich gewartet.
Stattdessen drehte sich alles ums selbe Thema:
- Wie ist der Humor in Corona-Zeiten?
- Ist es nicht seltsam, vor Schutzmasken aufzutreten?
- Wie ist die Stimmung, wenn das Zelt nur halb gefüllt sein darf?
- Was hat Daniel Koch an der Première für eine Maske getragen?
- Und was macht ihr jetzt? Ist euch jetzt langweilig?
Ursus & Nadeschkin sind nämlich dieses Jahr, dank dem Virus, doppelte Rekordhalter –
Wir sind nicht nur diejenigen Schweizer Künstler, die dieses Jahr TROTZ Corona am meisten Vorstellungen gespielt haben (65!), sondern sind ausserdem auch diejenigen, die dieses Jahr WEGEN Corona am meisten geplante Vorstellungen NICHT gespielt haben (161!).
Aber wahrscheinlich war das für die Medien zu kompliziert, um es in eine Schlagzeile zu verpacken...
24.11.2020
Jedem und jeder die eigene Toilette
Die Circus-Knie-Tournee 2020 ist vorbei. Sehr besonders war sie, aber vor allem viel zu kurz. Darum haben wir noch viele tolle Fotos, die's noch nicht ins Tagebuch geschafft haben.
Im Rückblick gibts jetzt hier alltäglich ein paar nicht alltägliche Pics aus unserer gerade noch so intensiv gewesener Zirkuszeit.
Heute: Die vielen, sauberen, zusätzlichen Toiletten! Wegen Corona bekam fast jede Zuschauerin, jeder Künstler und jedes Staff-Mitglied seine eigene, persönliche Toilette! Das war Luxux pur!
Foto © Danièle Träber
19.11.2020
....da waren's nur noch ein paar
3 Wochen nach dem zweiten und diesmal leider finalen Tourneestop sind nur noch ein Drittel aller Wohnwagen hier in der Zirkusknie-Wagenburg.
Es war eben nicht gerade einfach für unsere Kolumbianer, Argentinier und Marokkaner die Heimreise zu organisieren. Viele Reisen sind coronabedingt erschwert, oder gar nicht mehr machbar. Darum wohnten so manche Mitarbeiterinnen und Künstler auch nach dem überraschenden Schluss weiterhin hier auf einem Parkplatz im Albisgüetli. Aber leerer wird es dennoch. Tag für Tag. Und grauer, und kälter.
10.11.2020
SOS! Die Politik opfert die Kultur
© Südostschweiz Wochendendausgabe 7.11.
© Bote der Urschweiz / Schweiz am Wochenende –
Die Politik opfert die Kultur!
(von Stefan Künzli)
Die Schweizer Kultur hat eine grosse Bedeutung für die Wirtschaft. Doch die politischen Entscheidungsträger haben dieses Potenzial nicht erfasst. Die Massnahmen des Bundes gefährden gegen 180000 Arbeitsstellen.
Der Bundesrat reagierte schnell, sendete beim Ausbruch der Pandemie beruhigende Signale für die Kultur aus und versprach Soforthilfe im Umfang von 280 Millionen. Corona solle «die Schweizer Kulturlandschaft nicht zerstören», sagte der kulturaffine Bundesrat Alain Berset. Zur Eröffnung des Lucerne Festival erneuerte er in einer Schönwetterrede sein Bekenntnis zur Schweizer Kultur: «Ein vitales Kulturleben» gehöre «zu den Fundamenten einer jeden Gesellschaft. Wir brauchen Kultur.» In der Schweiz gelte das «sogar ganz besonders», weil die Schweiz «eine vielfältige Nation» sei, die «selber definieren müsse, was uns verbindet».
Alles kommt gut!
Kommt also alles gut? Von wegen!
Bis heute hat die Mehrheit der Kulturschaffenden noch keine Unterstützung für den ersten Lockdown erhalten und auch für die Kulturbetriebe wird die Luft dünn. Denn die neuen, verschärften Auflagen kommen für die Kultur einem zweiten Lockdown gleich. Der Kulturbetrieb kann nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden und die Reserven, so sie überhaupt vorhanden waren, werden bald aufgebraucht sein. Die Schweizer Kultur steht unverschuldet vor dem Abgrund. Peter Kurath vom Verband der Schweizer Kreativwirtschaft geht davon aus, dass in den nächsten sechs Monaten viele Kulturschaffende aufgeben und viele Kulturbetriebe eingehen.
Für Christoph Bill, den Präsidenten des Verbands der grossen Konzert-, Show- und Festivalveranstalter, ist klar: «Es wird die Existenz einer ganzen Branche aufs Spiel gesetzt.»
Der Kultursektor ist viel grösser als die Landwirtschaft
Wie konnte es so weit kommen? Der Bundesrat liess sich bei seinen jüngsten Entscheiden vom Grundsatz leiten, die wirtschaftlichen Aktivitäten aufrechtzuerhalten, den Berufsalltag und die Unternehmen zu schützen, um Arbeitsplätze zu sichern. Dieses Bestreben ist zweifellos richtig und wird auch von den Kulturschaffenden nicht bestritten. Vergessen ging dabei aber offenbar, dass es auch in der Kultur um Arbeitsplätze geht, um Existenzen. Auch in der Kultur geht es um wirtschaftliche Tätigkeiten, um Kulturbetriebe mit vielen Angestellten, freien Mitarbeitern und unzähligen Zulieferern. «Die Kultur schafft neben kulturellen auch ökonomische Werte», schreibt das Bundesamt für Statistik im aktuellen Bericht «Kulturwirtschaft Schweiz». Diese Botschaft scheint aber bei den Entscheidungsträgern und Meinungsmachern der Politik nicht angekommen zu sein. Stattdessen werden die Kultur auf «Freizeit» und die Kulturbetriebe auf «Freizeitinstitutionen» reduziert.
Die Politik hat die wirtschaftliche Dimension, das grosse wirtschaftliche Potenzial der hiesigen Kultur nicht erfasst. «Sie wissen es nicht besser», sagt Kurath. Dazu ein paar Zahlen: In der Schweizer Kreativwirtschaft sind in 71000 Betrieben 438000 Leute beschäftigt, die jährlich einen Umsatz von 22 Milliarden erwirtschaften. Gemäss Schätzungen von Kurath sind 20 Prozent dieser Kreativwirtschaft, vor allem in den Bereichen Konzert, Kleinkunst, Theater und Tanz, Kino- und Filmbranche sowie Literatur-Lesungen, von den Vorgaben des Bundesrats massiv betroffen: Das sind 115000 Beschäftigte bei einem Umsatz von 4,4 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Die Landwirtschaft erwirtschaftet nur 3,5 Milliarden.
Die Veranstaltungstechnik steht vor dem Nichts
Ebenso stark betroffen ist die Branche der Veranstaltungstechnik, die mit 23000 Angestellten und 40000 Leuten auf Abruf einen Umsatz von rund 3 Milliarden erarbeitet. «Die Reserven sind aufgebraucht. Jetzt geht es darum, irgendwie die Pandemie zu überleben», sagt Christoph Kamber, der Präsident von Expo Event, dem Branchenverband der Event-Industrie. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Der Bund hat diese Woche zwar die Hilfsverordnung in die Vernehmlassung geschickt. Für Kamber ist die Limite des Bundes von 200 Millionen aber ein Tropfen auf den heissen Stein. «Wenn jetzt nicht schnell und grosszügig Lösungen gefunden werden, stirbt eine ganze Branche», sagt er.
Die Schweizer Kulturszene hat sich in den letzten Jahren stark verändert. «Das Bild einer abgehobenen, hochsubventionierten Hochkultur, die sich aus den staatlichen Fördertöpfen bedient, macht nur noch einen kleinen Teil der Kreativwirtschaft aus», sagt Kurath. Stattdessen ist eine Kulturlandschaft entstanden, in der viele Veranstalter und Kreativschaffende ohne Unterstützung der öffentlichen Hand funktionieren. «Ich habe selten so viele fleissige Leute kennen gelernt wie in der Kreativwirtschaft», sagt Kurath.
Die Kulturbranche ist stark segmentiert
«Die Schweizer Pop-Kultur zum Beispiel existiert nur dank Veranstaltern, die auf eigenes Risiko solche Kultur in ihrer Vielfalt in alle Landesteile bringen», sagt Christoph Bill. Dazu tragen sie zu einer beachtlichen direkten und indirekten Wertschöpfung bei. Viele Veranstaltungen wie Zermatt Unplugged, Jazz Festival Montreux, Moon & Stars Locarno oder das Festival da Jazz St. Moritz hätten eine grosse Bedeutung für das Standort-Marketing und den Tourismus. Gemäss Kurath ist die Politik aber «noch nicht bereit, diese Veränderungen anzuerkennen und das veraltete Bild zu korrigieren». Es bestehe ein grosser Nachholbedarf.
Umgekehrt hat es die Kulturlobby nicht geschafft, ihre Botschaft bei der Politik zu vermitteln. «Es wurden in der Vergangenheit Fehler gemacht», gibt Kurath zu. Die Strukturen seien verbesserungsfähig. Corona habe das deutlich gemacht. Die Kultur müsse sich besser verkaufen. Viele Szenen seien stark segmentiert, die Branchen und Künstler auf sich selber fixiert. «Diese Einzelkämpfer an einen Tisch zu bringen, um gemeinsame Botschaften zu erarbeiten, ist leider ein Ding der Unmöglichkeit», sagt er weiter. «Wir erhalten jetzt die Quittung für dieses Kleinteilige.» Kurath nennt den Bauernverband als Vorbild. Dieser sei deshalb so stark, weil die Bauern es geschafft hätten, sich zusammenzuraufen. Aber sie haben auch 150 Jahre Vorlauf. Vernetzte Kulturverbände gibt es dagegen erst seit einigen Jahren. «Wir sind auf dem Weg», sagt Kurath, «viele tun sich jetzt zusammen.»
Der Präsident der Schweizer Kreativwirtschaft und Verwaltungsratspräsident von Blofeld Entertainment spricht von einem Systemfehler. «Denn wer als kommerzieller Kulturunternehmer Angestellte hat und Geld verdienen muss, um den Angestellten den Lohn zu bezahlen, kriegt von der Coronahilfe «SuisseCulture» und anderen kantonalen Kulturfachstellen nichts. Die Paragrafen lassen es nicht zu. Man sei nicht bereit für jene Flexibilität, die es in einer Krise braucht. «Man könnte mit wenig Mitteln wahnsinnig viel bewirken», sagt er. Auch bei den selbstständig erwerbenden Kulturschaffenden. Mit einer Pauschale für den Erwerbsausfall würden viele gut durchkommen. Das würde den Staat jetzt zwar «ein paar 100 Millionen kosten, aber den Flurschaden verhindern. Altersarmut von Künstlerinnen und Künstlern ist vorhersehbar, und die wird die Allgemeinheit später Milliarden kosten», sagt Kurath.
Vertrauen in die Politik ist nachhaltig gestört
Kurath ärgert sich auch über die Verzögerungen der Entschädigungsgesuche und die bürokratischen Hindernisse. «Das ist das Unvermögen der Verwaltung und zeigt, wie weit sie von diesen Branchen entfernt ist. Wenn ich mir vorstelle, wie schnell und unkompliziert man der Airline Swiss ganz viel Geld zugesprochen hat. Nur weil dort die entsprechende Lobby wirkt.» Dabei sei das Instrument da. Man müsse nur das erfolgreiche KMU-Hilfssystem auf die Kultur übertragen. «Aber der politische Wille fehlt offenbar», sagt er, «und die Verwaltung sperrt sich, weil ihr nicht bewusst ist, was für ein nachhaltiger Schaden angerichtet wird».
«Die Signale, die man gegenüber der Kultur aussendet, sind verheerend, skandalös und respektlos», sagt Kurath, «es ist kleinlich und der Schweizer Politik nicht angemessen. Das Vertrauen der Kulturschaffenden in die Politik ist dadurch nachhaltig gestört worden.» Die Verunsicherung schlägt in Wut und Ohnmacht um. Dabei gehe es nicht nur ums Geld, es gehe um fehlende Wertschätzung. «Es ist unwürdig und wird sich rächen», meint Kurath, «denn die Kultur sorgt letztlich für den Zusammenhalt in diesem Land.»
Rund 4,4 Milliarden Franken Umsatz erwirtschaften die 115000 Beschäftigten in den betroffenen Bereichen der darstellenden Kunst.
Notfallpatient: Bei den Kulturschaffenden schlägt die Verunsicherung in Wut und Ohnmacht um.
-> 3 Stellungsnahmen betroffener Kulturschaffenden:
Lisa Christ – Autorin und Slam-Poetin
So wird lebendige Kultur verunmöglicht
Von Seiten der Politik wird praktisch täglich betont, man habe heute mehr Informationen als noch im Frühling und könne besser auf die Pandemie reagieren. Der blanke Hohn solcher Aussagen verschlägt mir den Atem, sind doch viele aus der Kulturbranche heute massiv schlechter dran als noch vor einem halben Jahr.
Die Erweiterung der Erwerbsersatzordnung im Frühling hat viele von uns gerettet. Dennoch hat auch das gedauert: Ich kenne Leute, die bis heute kein Geld gesehen haben. Indes stellt sich für viele erneut und drängender denn je die Frage nach der Existenzsicherung:
Wer ersetzt uns den ausbleibenden Umsatz der normalerweise starken Wintersaison aufgrund abgesagter Veranstaltungen oder solchen, die gar nicht erst gebucht wurden?
Indem sich Staat und Kantone weigern, Kulturinstitutionen behördlich zu schliessen und stattdessen Bedingungen aufstellen, unter denen ein einträglicher Betrieb verunmöglicht wird, entzieht man sich der finanziellen Verantwortung, jene Leute zu entschädigen, die tagtäglich dafür sorgen, dass Kultur in unserem Land lebendig und bunt bleibt. Von der Technikerin zum Bar-Chef, vom Organisationsteam bis hin zur Künstlerin und deren Agentur.
Die wenigen, die sich dazu hinreissen lassen, trotz zahlreicher Warnungen abends das Haus zu verlassen, erleben oft schöne Shows und eine begeisterte Stimmung, die durch die vielen kleinen, mutigen Spielorte ermöglicht werden. Bisweilen findet man sich aber in grossen, leer anmutenden Räumen wieder, die extra neu bezogen werden mussten. Allen hingebungsvollen, herzlichen und innovativen Bemühungen zum Trotz: Mit 1,5 Meter Abstand zum nächsten menschlichen Wesen, teilweise mit Maske, oftmals ohne Pause und Barbetrieb, lacht, klatscht und spielt es sich schwerer.
In Anbetracht des Durchhaltevermögens und der vielfältigen Bemühungen seitens der Kulturbranche, seit Beginn des Jahres trotz extrem widriger Umstände weiterhin Kultur an die Menschen zu bringen, wäre es das Mindeste, ihre Existenzängste ernst zu nehmen und rasch eine helfende Hand zu reichen.
Dieter Ammann – Musiker und Komponist
Sicherung unserer Existenz ist Pflicht
Ja natürlich, ich hätte nur allzu gern weitere Früchte meiner Arbeit in Form von Länderpremieren meines Klavierkonzerts, live gespielt von Weltklasseorchestern, Solist und Dirigent, einander zu Höchstleistungen anspornend, erlebt, und all dies vor einem enthusiastischen Publikum. Allein schon die Beschreibung dieser Erlebnisse lässt mich die grosse Entfernung zum «vorcoronaren» Komponistenleben schmerzlich empfinden.
Ja natürlich, es schmerzt, die Hilferufe meiner Studierenden, vornehmlich der ausländischen, die keine familiäre Infrastruktur in Reichweite haben, zu hören und ihnen Empfehlungen zu schreiben, da sie keine Auftritte mehr haben und ihnen auch noch der Aushilfsjob gekündigt wurde. Es geht ans Lebendige!
Was sind langfristige Auswirkungen auf die Gesellschaft? Eine länger andauernde Kunst- und Kulturlosigkeit wäre ein Katalysator für die Verrohung der Gesellschaft. Kunst ist ein Universum, welches den Menschen als solchen überhaupt erst ausmacht, in ihrer Grösse vergleichbar mit den Wissenschaften oder auch der Philosophie. Das Schaffen und Konsumieren von Kultur ist ein Zeichen für unsere Fähigkeit, die eigene Existenz zu reflektieren. Das ist eigentlich das Wesentlichste, was uns vom Tier unterscheidet.
Dennoch: Die Diskussion um die Verhältnismässigkeit der Massnahmen sollten wir Kunstschaffende auf keinen Fall führen: Die Thematik kann erst nach der Krise aufgearbeitet werden – und zwar von der Wissenschaft und den politischen Organen.
Worauf wir aber mit Nachdruck beharren müssen ist die Sicherung der Existenzgrundlagen der Kulturschaffenden sowie die zwingende Erhaltung der weit verzweigten Infrastrukturen für Kulturtransfer. Ohne diese Kanäle ist nämlich jeglicher Fluss von kulturellen Angeboten zum Publikum hin unmöglich.
Zu guter Letzt: Massnahmenverweigerer, Coronarebellen und ähnlich «mutige» Leute sind keine Helden, sondern (in Anbetracht des derzeitigen Standes der wissenschaftlichen Forschung) Idioten, deren Tun höchstens auf die Verlängerung dieser schweren Zeiten hinwirkt.
Samir – Filmemacher
Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Überleben!
Alle waren diesen Frühling zu Hause eingeschlossen. Viele Kulturanlässe sind abgesagt worden. Und die Menschen getrauen sich nicht ins Kino oder Theater, in Konzerte oder Lesungen. Verständlich, denn das Virus kann überall aufgelesen werden.
Aber noch nie hatten wir so viel Zeit, um Filme zu schauen, Musik zu hören und Bücher zu lesen. Offensichtlich sind wir Kulturschaffenden (neben dem Pflegepersonal) auch «systemrelevant». Wie kann es sein, dass unsere ökonomische Situation nicht dementsprechend gewürdigt wird? Laut Bundesamt für Statistik arbeiten über 250000 Personen im Kulturbereich. Davon etwa 80000 kreative Menschen im Film, in der Kunst, im Theater, in der Musik und Literatur. Bei der Swiss arbeiten knapp 10000 Menschen. Die Swiss erhielt sehr rasche Unterstützung in der Höhe von zwei Milliarden Franken. Und die Manager wollen sich noch Boni ausbezahlen. Was meinen Sie, was die Kulturschaffenden bei einem Medianeinkommen pro Jahr von 40000 Franken für Boni erhalten haben?
Okay, mal die Polemik beiseitegelassen: Aber wie soll eine Ausfallentschädigung für die freien Kulturschaffenden definiert werden? Kulturschaffende um den Schriftsteller Rudolf Jula haben im Juni in einem Brief an den Bundesrat auf die prekäre Situation aufmerksam gemacht und darum gebeten, unbürokratisch Lösung zu finden. Zum Beispiel mit einem Fixbetrag. Der Vorschlag kam leider nicht durch.
Die Kulturverbände haben es dann geschafft, im Rahmen von «SuisseCulture» beim Bund ein Hilfsprogramm aufzugleisen. Doch für viele meiner Freunde war der Prozess um finanzielle Unterstützung zu kompliziert. Und viele haben sich auch ganz einfach geschämt. Doch das Hauptproblem für mich als Filmschaffenden ist die Situation in den Kinos. Maximal 50 Zuschauer sind zu viel zum Sterben und zu wenig zum Überleben! Es geht hier nicht nur um die Betriebe und ihre Angestellten, sondern auch um die Zukunft lebendiger Innenstädte. Es muss dringend eine finanzielle Lösung gefunden werden, bevor die Kinobetriebe ruiniert sind.