Tagebuch
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08.02.2007
© KÖLNER STADT-ANZEIGER
(Foto Geri Born)
Die Berge machen bescheiden
Ursus (Wehrli) und Nadeschkin alias Nadja Sieger treten in der Comedia auf.
KÖLNER STADT-ANZEIGER: Sie kommen aus der Schweiz, einem, wie manche meinen, fremden Kulturkreis.
URSUS: Deutschland und die Schweiz liegen so nah beieinander, aber man weiß wenig voneinander. Ein Deutscher fährt im Urlaub vielleicht in die Südschweiz, aber ein Schweizer geht nie nach Deutschland. Wieso auch?
NADESCHKIN: Wenn Schweizer nach Berlin fahren, bleiben sie meistens da. Weil Deutschland und Italien so verschieden sind, glaubt man, dass die Schweiz weniger verschieden ist.
Worin besteht denn der Unterschied zwischen den Ländern?
NADESCHKIN: Wenn der Schweizer ein Bier bestellt, sagt er: „Entschuldigung, ich hätte gerne ein Bier.“ Der Deutsche sagt: „Ich krieg'n Bier.“ Deutsche befehlen.
URSUS: Deswegen haben es die Deutschen in der Schweiz nicht leicht, weil jeder denkt: „Was ist das denn für ein arrogantes Arschloch?“ Dabei meint der Deutsche das gar nicht so.
NADESCHKIN: Die Schweiz ist nicht größer als Bayern und hat vier Sprachen. Wenn einer aus den Bergen rätoromanisch spricht, versteht er die Menschen in Zürich schon nicht. Es gibt immer hundert Ansichten, aber nie eine Einigung. Wir müssen immer erst einen Tunnel bauen und können nicht wie in Deutschland direkt losfahren. In der Schweiz muss man immer Umwege machen. Das ist symptomatisch für die Bevölkerung. Deswegen haben es Neuerungen viel schwerer als die alten Angewohnheiten.
Was ist Eurer Meinung nach der Grund für die unterschiedlichen Temperamente?
URSUS: Es ist erstaunlich, wie die Natur die Menschen beeinflusst. Die Mehrheit der Schweizer sehen einen Berg, wenn sie aus dem Haus treten. Und zwar einen großen Berg.
NADESCHKIN: Und ziemlich nah.
URSUS: Sie sehen etwas, das größer ist als sie. Dagegen ist man machtlos. Da wird man kleiner, bescheidener, dankbarer.
NADESCHKIN: Ein Berg ist ein Aufwand, etwas, was sich dir in den Weg stellt. Er nimmt dir den Horizont. Die Leute sind ängstlicher.
In Deutschland beneidet man die Schweizer um ihre Neutralität.
NADESCHKIN: Mir hat ein deutscher Kollege gesagt, dass er bei Gastspielen in der Schweiz spüre, dass wir keinen Krieg hatten. Die Aggression sei nicht da.
URSUS: Vieles funktioniert in der Schweiz nicht. Wir haben in der Schweiz keine Stars. Berühmte Schweizer wie Roger Federer, DJ Bobo oder Martina Hingis können unbehelligt in ihrer Stamm-Kneipe hocken. Die Massenphänomene gehen hier nicht. Der Schweizer hat etwas Behäbiges, das Gegenteil von Hysterie.
Viele Deutsche halten die Schweiz für ein Paradies . . .
NADESCHKIN: Weil wir besser im Verstecken sind. Es ist nicht so, dass es bei uns nur reiche Leute gibt. Wenn man in Deutschland ein Problem richtig laut rausschreit, findet sich immer jemand, der zuhört. Das würde sich ein Schweizer nie trauen. Wenn jemand nicht genug Geld hat, dann schweigt er und guckt, wie er über die Runden kommt.
In Ihrem „Weltrekord“ gibt es viele Sieger und zwei Verlierer.
URSUS: Unser Programm „Weltrekord“ ist auch symptomatisch für die Schweiz, weil wir immer verlieren. Bis zum Schluss: Uns gefällt das. Unser Motto ist: Gut ist nicht besser als schlecht. In der Schweiz gibt es Berg und Tal, Tag und Nacht. Das macht das Leben interessant.
Für das Programm habt Ihr die Gebärdensprache gelernt.
NADESCHKIN: Das haben wir jäh beendet. Wir dachten, wir kriegen das schneller hin. Wir haben um die 600 Zeichen gelernt und immer wieder vor Gehörlosen gespielt und mit Dolmetschern zusammengearbeitet. Die Idee war die, dass wir mit der Gebärdensprache ein Gedicht auswendig lernen und das synchron rezitieren.
URSUS: Wir haben gemerkt, dass man die Gebärdensprache nicht eben mal in ein paar Monaten lernt. Da kommt eine Welt auf einen zu, vor der man einen Riesenrespekt bekommt.
NADESCHKIN: Diese Menschen haben einen Humor, das glaubt man nicht. Ein Gehörloser weiß, dass sich durch Assoziationen oft Missverständnisse einschleichen.
URSUS: In der Gebärdensprache wird sehr viel reflektiert. Wenn man erzählt, wird viel wiederholt.
Ihr habt sämtliche wichtigen Preise im deutschsprachigen Raum bekommen - ist künstlerische Leistung nicht doch messbar?
NADESCHKIN: Deswegen finden wir Preise eigentlich blöd. Aber natürlich freuen wir uns auch darüber, wenn der Preis andere nicht klein macht.
Das Gespräch führte Marianne Kolarik.