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Letztes Notenblatt vor der langen Fermate...
Nadeschkin ist gerade dabei, die allerletzte Pressekritik der Tournee zu lesen:
© Neue Zürcher Zeitung, gestern 2008
BRÜCKE ÜBER DEN GRABEN
Konzerttheater der Camerata Schweiz mit Ursus & Nadeschkin
In der Schweiz gibt es nicht nur einen Röstigraben, sondern - das wissen wir Zürcher seit dem Wochenende - auch einen Graben zwischen den Einwohnern «mit Konservatorium» und solchen «mit ohne Konservatorium». Da Gräben ein gesellschaftliches Risiko darstellen, sprechen Kulturpolitiker immer wieder davon, dass diese zugeschüttet werden sollten. Am Samstag ist die Herkules-Aufgabe in der Tonhalle Zürich spielend gelungen. Die Akteure: das Komikerpaar Ursus & Nadeschkin sowie die Dirigentin Graziella Contratto mit dem Sinfonieorchester Camerata Schweiz unter der Regie von Tom Ryser auf der letzten Station ihrer Schweizer Tournee.
Zu Beginn herrscht die reine Konfrontation. Nadja Sieger alias Nadeschkin und Urs Wehrli alias Ursus, die auf den Sitzen der Orchestermusiker Platz genommen haben, werden von diesen verdrängt. Die Dirigentin würdigt das Paar im gelben und im weissen Frack keines Blicks und dirigiert tapfer den ersten Satz von Beethovens fünfter Sinfonie durch. Nach dem Schlussakkord brechen die beiden in tosenden Applaus aus und reissen das ganze Publikum mit - ein Sakrileg in den heiligen Hallen des Musentempels. Wutentbrannt legt sich Contratto mit den zwei «Botschaftern der Musik» an und entlarvt sie als Ignoranten, indem sie sie über Beethovens Leben und Werk examiniert. Doch das Eis schmilzt, die Dirigentin findet Gefallen am Komikerpaar, und vor der Pause bietet sie ihnen bereits das Du an.
Während der pädagogische Aspekt im ersten Teil des Programms gelegentlich sauer aufstösst, entfaltet der zweite Teil eine erfrischende Dynamik, in die auch das Orchester hineingezogen wird. Dass Contratto auf dem Keyboard nicht nur Bachs berühmte Toccata, sondern auch Abba & Co. spielen kann, findet bei den Musikerinnen und Musikern der Camerata sogleich Nachahmung. Die Dirigentin will zwar wieder zurück zu Beethoven, aber das Orchester reagiert trotzig mit einer jazzigen Variante. Bei der Dur-Version der c-Moll-Sinfonie protestiert der Hornist lautstark, und beim Durchgang mit vertauschten Noten, einer absoluten Kakofonie, läuft eine Geigerin weg. Lustvoll erfüllt das jugendliche Orchester die ungewohnten schauspielerischen Aufgaben. Gekonnt wechselt Contratto in ihrer Doppelrolle zwischen gestrenger Dirigentin und experimentierfreudiger Komikerin. Und die «Ignoranten» Ursus & Nadeschkin erobern die Herzen des Publikums endgültig, als sie zum Schluss eine vokale Variante der «Tätätätaa»-Sinfonie mit Dirigiereinsätzen zum Besten geben.
Thomas Schacher
(Foto: Bernhard Fuchs)
28.04.2008
Vorläufiges Schlussbild
Schlussapplaus in der Tonhalle Zürich für IM ORCHESTER GRABEN –
stehendes Orchester, stehendes Publikum und wehmütige Verabschiedung.
Wir freuen uns auf die Fortsetzung im 2009!
27.04.2008
Tonhalle Zürich – Heute Dernière?
Heute graben wir zum letzten Mal im Orchester –
unsere Tournee geht zu Ende... für dieses Jahr.
An der Wiederaufnahme wird nämlich bereits heftig geplant.
Dass wir den Abschluss der Tournee in der Tonhalle Zürich vor zwei mal 1500 Menschen feiern können, ist doppeltes Glück: erstens haben wir keinen langen Nachhauseweg, und können deshalb so lange Party feiern, wie wir wollen, und zweitens ist die Tonhalle - wie wir mittlerweile auch wissen - der Lieblingssaal eines jeden Orchestermusikers.
Das muss wohl stimmen, denn soeben haben wir aus der Zeitung erfahren: «Was für New York die Carnegie Hall, ist für Zürich die Tonhalle: ein exzellenter Konzertsaal mit Weltgeltung, in dem alles, was in der klassischen Musik Rang und Namen hat, auftritt. Kein Wunder, kommt ein Konzert in der Tonhalle einem Ritterschlag gleich. Danach werde man ein anderer Mensch sein, behaupten jene, die ihn hinter sich haben.»
(AZ, April 08)
Da sind wir ja gespannt, was für andere Menschen wir ab morgen sein werden.
25.04.2008
© Tages Anzeiger Zürich
Wer dirigiert hier eigentlich, und wer spielt überhaupt noch?
© Tages Anzeiger Zürich
Beethovens Fünfte, underobsi gekehrt
Ursus und Nadeschkin graben mit Lust im Orchester.
Am kommenden Wochenende führt ihre Tournee nach Zürich.
Zum Schluss geschieht etwas Überraschendes und eigentlich Wunderbares: Die Musiker des Sinfonieorchesters Camerata Schweiz spielen den ersten Satz aus Beethovens Fünfter – zum wie vielten Mal an diesem Abend nun schon? – ganz allein zu Ende, an der Rampe des Podiums stehend, und plötzlich erscheint die Musik wieder in ihrer ursprünglichen magischen Schönheit und Kraft, steigt sie wie Phönix aus der Asche auf.
Dabei ist das Orchester bei dieser Aufführung im Luzerner KKL zuvor mit diesem Satz kaum zurande gekommen. Beim ersten Mal wurden die Musiker vom Applaus unterbrochen, und alle weiteren Aufführungsversuche gerieten noch chaotischer, so sehr sich die Dirigentin Graziella Contratto zunächst auch dagegen wehren mochte. Schliesslich aber spielte sie mit in diesem Theater, verfremdete das Stück selber zum Jazz, führte es rückwärts auf und mit vertauschten Notenblättern, ja einmal sogar als Zugabe – eigentlich ein in diesem Zusammenhang brutal-trauriger Moment –, so, wie es der taube Beethoven (eben nicht) gehört haben mag.
Nicht zerstört wurde hier also, sondern in veränderter Ordnung neu gehört. Wir erinnern uns, wie ein gewisser Ursus Wehrli die Meisterwerke der Kunstgeschichte «aufräumte» und sie so neu lesbar machte. Nun hat er hier als Ursus zusammen mit Nadeschkin im Orchestergraben gewirkt bzw. im Orchester gegraben bzw. versucht, den Graben des breiten Publikums zum Orchester, sprich zur klassischen Musik zu überwinden. Was nicht gelang bzw. bestens gelang, denn das Durcheinander entsteht in diesem Programm nicht dadurch, dass Ursus und Nadeschkin klamaukhaft Unfug treiben, sondern dass sie ständig neue Ordnungen erdenken.
Spielball der Clowns
Das unter der Regie von Tom Ryser entstandene Konzerttheater «Im Orchester Graben», das zurzeit auf Schweizer Tournee ist und nun noch nach Zürich kommt, macht die Widersprüche und Hinterhalte, die verborgenen Freuden und Lüste der beethovenschen Musik, aber auch des Konzertbetriebs sichtbar. Nadeschkin und Ursus hätten da eigentlich die theatralische Aufgabe des Vermittlers, aber sie erledigen das natürlich auf ihre komische Weise. Der Dirigentin Graziella Contratto im langen schwarzen Frack kommt dabei bald die Rolle einer weissen (vernünftigen) Clownin zu, die ihre Mitspieler immer wieder zur Vernunft rufen will, und das Orchester wird zum Spielball der auch dirigierenden Clowns – zu einem allerdings recht eigenwilligen Ball, der plötzlich aus gewerkschaftlichen Gründen in die Pause geht und die Protagonisten alleine lässt.
Was da geschieht, hat – oho! – sogar etwas Avantgardistisches. Ein improvisierendes Orchester mit Armbewegungen zu dirigieren, überhaupt die Gestik des Dirigenten auszukomponieren bzw. sie in karajanscher Manier zu parodieren, mit derlei wurde schon in den 1960er-Jahren zum Beispiel im instrumentalen Theater experimentiert. Manche Momente klangen hier denn auch wie Neue Musik – und wurden vom Publikum dennoch fröhlich akzeptiert, weil sie halt nicht so gar ernst daherkamen.
Toll, wie die Orchestermusiker mit ihren Flauten, OBöen und RaViolinen mitmachten, fabelhaft reagierten und ausserdem unter Contrattos Leitung auch einen klar ausgehörten Beethoven boten. Das sei denn doch noch angemerkt. Ach! das liest sich jetzt wohl alles so seriös, dabei haben wir so gelacht, nicht eingelullt von der Komik, sondern durch sie aufmerksam nicht nur auf die Musik, sondern auf jede veränderte Miene, jede kleine Geste, jedes Untertönchen, an einem Abend, der einem immer wieder die Haare im Frühauf zu Berge stehen liess, meint der im Konzert angesprochene Kritiker mit den wenigen Haaren.
Zürich, Tonhalle, Samstag und Sonntag, 20 Uhr.
Text: Thomas Meyer / Bild: Geri Born
24.04.2008
Beethoven hören
Wie jeder Zuschauer, der bei uns im Publikum sass, nun weiss, hat es Beethoven ja mit den Ohren gehabt. Deswegen wurden seine Sinfonien häufig so laut gespielt.
Gerade eben haben wir folgende wissenschaftliche Abhandlung gelesen und möchten sie Ihnen nicht vorenthalten:
«...Bei einer anderen Form der Schwerhörigkeit kommt es aufgrund von Verhärtungen im umgebenden Gewebe (man spricht von Otosklerose) zu einer Verminderung der Beweglichkeit der Gehörknöchelchen und damit der Fähigkeit zur Weiterleitung des Schalls. Der bekannteste hieran erkrankte Patient war Ludwig van Beethoven. Da Schall jedoch auch, allerdings wesentlich leiser, über den Knochen geleitet werden kann, konnte Beethoven sein Klavierspiel hören, indem er ein Ende eines Holzbretts auf den Resonanzkörper seines Klaviers legte, das andere Ende des Holzbretts zwischen die Zähne nahm und drauf biss. Der Schall wurde auf diese Weise vom Klavier über das Brett zum Oberkiefer und von dort zum Innenohr geleitet.»
(Foto: Bernhard Fuchs)